S.I.G.N.A.L. - Leitfaden

Der S.I.G.N.A.L. - Leitfaden basiert auf international anerkannten Standards für die Intervention in der Gesundheitsversorgung bei häuslicher Gewalt. Jeder Buchstabe beschreibt eine Empfehlung in der Versorgung Betroffener und im Umgehen mit Gewalt in Paarbeziehungen.

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S etzen Sie ein Signal: Sprechen Sie Gewalterfahrungen aktiv an

Viele Frauen (und Männer), die Gewalt in der Partnerschaft oder durch eine andere nahestehende Person erleben, berichten aus Scham und Angst nicht von sich aus darüber. Studien belegen eindrucksvoll, dass Frauen es begrüßen konkret nach möglichen Gewalterfahrungen gefragt zu werden und sie sich dann eher öffnen.
Machen Sie deutlich, dass sie für das Thema Gewalterfahrungen sensibel sind und bei Bedarf Unterstützung anbieten. Zum Beispiel: "Wir wissen, dass in vielen Paarbeziehungen Gewalt ausgeübt wird. Darüber zu sprechen ist nicht leicht. Wir haben uns angewöhnt mögliche Gewalterfahrungen offen anzusprechen und Unterstützung anzubieten."
Die Frage nach Gewalterfahrungen kann bei Verdachtsmomenten gestellt oder routinemäßig in die Anamnese integriert werden.

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I nterview mit konkreten Fragen

Die Begriffe „häusliche Gewalt“ oder „sexuelle Gewalt“ sind sehr abstrakt. Betroffene finden sich darin selten wieder. Möglicherweise wird auch das Handeln des Partners oder der Partnerin nicht als Gewalt interpretiert. 
Fragen Sie nach konkreten Handlungen, z. B. “Kann es sein, dass Sie geschlagen / getreten / geschubst / gestoßen wurden? War es Ihr Partner / Ihre Partnerin?“ oder “Hat Ihr Partner / Ihre Partnerin Ihnen schon einmal gedroht, Sie einzusperren / Sie zu schlagen / Sie umzubringen / Dinge zu tun von denen er weiß, dass Sie das nicht wollen…?“ 

Sprechen Sie mögliche Gewalterfahrungen nur an, wenn sie mit der Patientin oder dem Patient alleine sind bzw. kein Begleitperson anwesend ist. Sollte eine Sprachmittlung notwendig sein, beziehen Sie professionelle Sprachmittler / -innen ein. Lassen Sie in keinem Fall begleitende Familienangehörige oder Kinder übersetzen. Achten Sie auf eine zugewandte und geschützte Gesprächssituation.
Einige Grundsätze für das Gespräch.

Ihre Patientin oder Ihr Patient bejaht Gewalterfahrungen: 

  • Ermutigen Sie sie bzw. ihn darüber zu sprechen. Wertschätzen Sie den Mut und das Vertrauen, dass Ihnen entgegen gebracht wird. Weisen Sie auf Ihre Schweigepflicht hin.
  • Hören Sie offen und unvoreingenommen zu. Ziehen Sie die Schilderungen nicht in Zweifel, auch wenn Sie Ihnen vielleicht bruchstückhaft, widersprüchlich oder nur schwer nachvollziehbar erscheinen.
  • Vermitteln Sie, dass Gewalt Unrecht ist (niemand verdient es verletzt zu werden) und entlasten Sie die Patientin vom Gefühl verantwortlich zu sein für die erlittene Gewalt.
  • Wenn Sie einen begründeten Verdacht auf Gewalt haben, Ihre Frage jedoch verneint wird:
  • Respektieren Sie die Antwort. Weisen Sie darauf hin, dass Ihnen das Thema wichtig ist. Setzen Sie die Anamnese fort oder kehren Sie zur Versorgung zurück.
  • Prüfen Sie vorliegende Verdachtsmomente und achten Sie auf mögliche weitere Anzeichen von Gewalt. Wenn Ihre Befürchtung bestehen bleibt, teilen Sie Ihre Sorge bei einem Folgetermin erneut mit. Wiederholen Sie Ihr Gesprächs- und Unterstützungsangebot ohne aufdringlich zu sein.

Sind Kinder involviert, tauschen Sie sich mit einer Kollegin / einem Kollegen über ihre Wahrnehmungen aus. Lassen Sie sich von einer im Kinderschutz erfahrenen Fachkraft zum weiterem Vorgehen beraten. 
Kinder werden durch das Miterleben von Gewalt in ihrer Familie nachhaltig belastet und in ihrem Wohl beeinträchtigt. Sie benötigen Hilfe und Unterstützung.

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G ründliche Untersuchung auf alte und neue Verletzungen

Achten Sie bei der Untersuchung auf Anzeichen für eine mögliche Misshandlung (Warnhinweise). Dies sind beispielsweise:

  • Verletzungen in unterschiedlichen Heilungsstadien.
  • Fehlende oder mangelnde Übereinstimmung zwischen Verletzungsart und Erklärung zur Entstehung.
  • Spätes Aufsuchen der Versorgung trotz behandlungsbedürftiger / schwerer Verletzungen.
  • Bericht über Suizidgedanken oder erfolgter Suizidversuche.
  • Einnahme von Beruhigungs- oder Aufputschmitteln, Suchtmittelabhängigkeit.
  • Angst- und Panikattacken.

Ein insgesamt schlechter Gesundheitszustand und häufige Erkrankungen.

Wenn die Patientin oder der Patient zustimmt, sollte eine Ganzkörperuntersuchung erfolgen. Beachten Sie dabei immer, dass die Patientin/der Patient die Kontrolle über die Situation behält. Gehen Sie sensibel und Schritt für Schritt vor. Vermeiden Sie ein vollständiges Entkleiden. Erläutern Sie jeden Untersuchungsschritt und holen Sie die Zustimmung der Patientin/des Patienten ein.

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N otieren und dokumentieren aller Befunde

Eine gerichtsfest verfasste ärztliche Dokumentation von Verletzungen und Befunden ist von hoher Bedeutung für die rechtlichen Handlungsmöglichkeiten des Opfers, seine Entlastung in einem Gerichtsverfahren und für die strafrechtliche Verfolgung der Taten. 

Eine gerichtsfeste Dokumentation sollte in allen Punkten beschreibend und nicht bewertend verfasst sein. Sie muss aussagekräftig, nachvollziehbar und auch für nichtmedizinisch ausgebildete Personen verständlich und leserlich sein. Wesentliche Aspekte:

  • Nennung von Rahmendaten: Ort, Datum und Uhrzeit der Untersuchung, Daten der Patientin/des Patient, Name der Ärztin/des Arztes.
  • Beschreibung jeder Verletzung in Hinblick auf Lage am Körper, Größe, Form und Begrenzung sowie Farbe. Im Idealfall wird ein Körperschema genutzt, in das jede Verletzung eingezeichnet wird.
  • Eine fotografische Dokumentation der Verletzungen ist wünschenswert. Zu beachten ist eine gute Ausleuchtung, der Einsatz eines Größenmaßstabs und die Kennzeichnung jedes Fotos.
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A bklären einer aktuellen Gefährdung und des Schutzbedürfnisses

Schutz und Sicherheit zu erhöhen sind zentrale Ziele der Intervention. Die Gefahr, dass Gewalt eskaliert, ist am höchsten, wenn die Misshandlung öffentlich gemacht wird oder eine Trennung beabsichtigt ist. Auch nach einer Trennung kann die Gewalt fortbestehen und ggf. weiter eskalieren. 
Berücksichtigen Sie, dass Kinder, die häusliche Gewalt (mit-) erleben, ebenfalls gefährdet sind und Sicherheit benötigen. Ziehen Sie ggf. eine im Kinderschutz erfahrene Fachkraft hinzu.
Fragen Sie, ob eine Rückkehr nach Hause möglich und gewünscht ist. Klären Sie, ob unversorgte Kinder zu Hause sind. Informieren Sie über Schutz- und Zufluchtsmöglichkeiten. 
Respektieren Sie die Entscheidung Ihrer Patientin/Ihres Patienten. Jede Veränderung ist ein Prozess, der Zeit braucht. Sie können diesen Prozess stärken, indem Sie Unterstützung anbieten und Ressourcen der Betroffenen stärken. 
Denken Sie daran, dass Sie nicht für die Entscheidungen Ihrer Patientin/Patient verantwortlich sind.

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L eitfaden mit Notrufnummern und Unterstützungsangebote anbieten

Bieten Sie stets Telefonnummern und Adressen von weiterführenden Beratungs-, Hilfe- und Schutzeinrichtungen an. 
Erfragen Sie, ob es für Ihre Patientin / Ihren Patienten gefährlich sein kann, Informationsmaterial wie beispielsweise die Notfallkarte des S.I.G.N.A.L. e. V. bei sich zu tragen. Unterstützen sie bei Bedarf bei der Kontaktaufnahme zu einer Beratungs- oder Zufluchtseinrichtung.