Qualifizierung zum Thema Intervention gegen häusliche und sexualisierte Gewalt in der Gesundheitsversorgung

Der sensible Umgang mit gewaltbetroffenen Menschen und ihre angemessene Versorgung können erlernt werden. Schulungen bieten Handlungssicherheit und Orientierung im Umgang mit Patient*innen, die von häuslicher und sexualisierter Gewalt betroffen sind. Qualifizierung ist ein grundlegender Baustein einer Intervention gegen häusliche und sexualisierte Gewalt. Inhaltliche Aspekte sind: Informationen zur Problematik, die Situation Betroffener und ihrer Kinder, das Ansprechen von Gewalterfahrungen, Dokumentation von Verletzungen und Vermittlung von Unterstützung. Bewährt hat sich die Verankerung der Schulung in die Ausbildung. In Berlin haben zahlreiche Ausbildungsstätten für Gesundheits- und Krankenpflege das Thema in Ihr Curriculum verankert.

Das Vivantes Institut für berufliche Bildung  im Gesundheitswesen (IbBG) hat die Thematik Häusliche und sexualisierte Gewalt in das herausragende Format einer Seminarwoche zum Thema „Schwierige soziale Situationen“ eingebettet. In dieser Woche befassen sich die Auszubildenden mit verschiedenen Formen und Aspekten von Gewalt.

Foto Manuela Ulrich: Copyright "Carolin Ubl/Vivantes"

Manuela Ulrich

Manuela Ulrich und Agnes Pilz berichten von ihren Erfahrungen. Manuela Pilz leitet den Fachbereich Pflege I und ist die Fachbereichsleitung für die Gesundheits- und Kinderkrankenpflege am IbBG. Sie ist u. a. verantwortlich für das 5-tägige Seminar. Agnes Pilz ist seit acht Jahren Pflegepädagogin am Institut und eine von zehn Kolleg*innen, die das Seminar durchführen. 

S.I.G.N.A.L.: Warum ist das Thema häusliche und sexualisierte Gewalt aus Ihrer Sicht für die Gesundheits- und Krankenpflegeausbildung wichtig?

Manuela Ulrich: Unsere Auszubildenden begegnen sowohl in Rettungsstellen als auch auf Stationen Menschen, die häusliche und sexualisierte Gewalt erfahren haben. Es ist für sie deshalb wichtig, dies wahrzunehmen und angemessen darauf reagieren zu können. Dafür benötigen sie Handlungsanweisungen oder eine Art Checkliste. Hilfreich ist es gesetzliche Richtlinien zu kennen, um sich im Nachhinein keine Vorwürfe zu machen und die eigenen Befugnisse nicht zu überschreiten. Das Seminar vermittelt einen gewissen Schutz und Sicherheit im Umgang mit der Thematik. Im Rahmen der Generalistik wird das Thema häusliche Gewalt immer wichtiger. Künftig findet ein Drittel der praktischen Ausbildung im häuslichen Pflegebereich statt. Es ist ein Unterschied, ob die gewaltvolle Situation im Nachhinein in der Klinik besprochen wird oder ob die betroffenen Person zu Hause angetroffen werden. Es ist unerlässlich für die Auszubildenden zu wissen, wie, wann und ob sie handeln sollten.

S.I.G.N.A.L.: Wie gestalten Sie die Seminarwoche zum Thema „Schwierige soziale Situationen“ ? Welche Vorteile hat die Einbindung des Themas Häusliche und sexualisierte Gewalt in dieses Format ?

Agnes Pilz: Das Seminar „Schwierige soziale Situationen“ läuft innerhalb einer Woche ab. Zunächst geht es um eigene Erfahrungen der Azubis. Sie bekommen Raum um von selbst erlebten Situationen zu sprechen. Wir zeigen ihnen Handlungsmöglichkeiten auf, um ihnen das Gefühl der Machtlosigkeit in schwierigen sozialen Situationen zu nehmen.

Am Montag sprechen wir über Macht, Hierarchie und Führungsstile, die Gewalt begünstigen können. Dann geht es um Gewalt in der Pflege und wie man sie verhindert. Am Mittwoch stehen Mobbing, sexuelle Belästigung und Diskriminierung auf der Agenda. Am Donnerstag wird S.I.G.N.A.L. zum Thema häusliche und sexualisierte Gewalt eingeladen. Der Einblick in das Deeskalationstraining am Freitag ist für die Auszubildenden oft das Highlight der Woche. Das Seminar findet nicht im gewohnten Klassenraum statt. Wir gestalten die Pausen flexibel, um uns auf verschiedene Methoden wie Gruppenarbeiten, Diskussionsrunden, Filme oder Rollenspiele einlassen zu können. Ich persönlich finde es schön die Gruppen nach dem Zufallsprinzip entstehen zu lassen. Die Auszubildenden melden mir oft zurück, dass sie durch die Zusammenarbeit mit anderen ihre Perspektive erweitern konnten.

Manuela Ulrich: Das Format Seminar hat viele Vorteile. Häufig sind Auszubildende selbst betroffen und wir können als Lehrende diese Erfahrungen und Emotionen nicht innerhalb einer Stunde oder einer Doppelstunde auffangen. Durch den Seminarcharakter vertiefen wir die Themen und nutzen die Methodenvielfalt. Auch die Brisanz des Themas wird innerhalb einer Projektwoche deutlicher.

S.I.G.N.A.L.: Wie haben sie das Thema in der Ausbildung verankert und was hat sich bewährt?

Manuela Ulrich:  Ausschlaggebend ist, das Modul fest ins Curriculum zu integrieren. Außerdem ist die Einbindung der Kolleg*innen wichtig. Diese müssen mitentscheiden und das Programm mit der Leitung gemeinsam gestalten.

Agnes Pilz: Das Seminar ist im dritten/vierten Semester verortet. Die Durchführung des Seminars ist vor Einsätzen, wie beispielsweise der Psychiatrie, für die Auszubildenden sehr wichtig. Sie erhalten dadurch die notwendigen Handlungskompetenzen.

S.I.G.N.A.L.: Was berichten die Auszubildenden und welche Kompetenzen entwickeln sie?

Agnes Pilz: Wir bekommen sehr positive Rückmeldungen. Besonders die Azubis, die bereits eine herausfordernde Situation erlebt haben, sind dankbar für die nachträgliche Auseinandersetzung damit.

Manuela Ulrich: Alle sind dankbar, dass das Thema Teil der Ausbildung ist. Sie lernen einerseits, wie sie sich gegenüber Opfern und Tätern verhalten und andererseits, wie mit Grenzverletzungen ihnen selbst gegenüber umzugehen ist.  Für sie ist hilfreich mehr über Klinikstrukturen zu lernen. Sie erfahren, wer ihnen bei Fragen hilft und lernen externe Organisationen wie S.I.G.N.A.L. kennen. Die Seminare bieten einen geschützten Raum, um über eigene Gewalterfahrungen zu sprechen. Es gilt die Vereinbarung: alles was dort besprochen wird, bleibt auch dort. Bei Bedarf stehen den Auszubildenden innerhalb des IbBGs und unserer Klinik unterschiedliche Ansprechpartner*innen zur Verfügung: z. B. eine Sozialarbeiterin, Vertrauenslehre*innen und die Seelsorge.

Auch Lehrkräfte werden nach Seminaren begleitet. Es gibt die kollegiale Beratung, um nach belastenden Offenbarungen einen Austausch zu ermöglichen. In der Projektwoche wird zur Entlastung aller Beteiligten immer zu zweit unterrichtet.

Agnes Pilz: Der Ombudsmann ist auch eine wichtige Person. Hierbei handelt es sich um einen von Vivantes unabhängigen Rechtsanwalt, an den sich jede*r wenden kann. Er berät dann mit der hinweisgebenden Person die weiteren Schritte.

S.I.G.N.A.L.: Welche Chancen sehen Sie für die Thematik in Bezug auf das neue Pflegeberufegesetz, die sogenannte Generalistik, welches einen neuen Rahmen für die Pflegeausbildung setzt?

Manuela Ulrich: Die Thematik wird definitiv weiterhin im Curriculum verankert werden und nicht verkürzt. Genauer Umfang und Stelle sind bisher noch unklar. Das neue Curriculum wird derzeit entwickelt. Der Aspekt Ethik in der Pflege rückt in der generalistischen Ausbildung immer stärker in den Fokus. „Häusliche und sexualisierte Gewalt“ wird in diesem Rahmen vertieft werden.

S.I.G.N.A.L.: Wir bedanken uns für das Interview.

Kontaktdaten für Interessierte:

Frau Manuela Ulrich, Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH, Institut für berufliche Bildung im Gesundheitswesen:

manuela.ulrich@vivantes.de 

Homepage: http://www.vivantes-karriere.de/wir-bilden-aus/